Das Felsengrab von Kemach

Der Genozid an den Armeniern - die Welt wusste, die deutsche Regierung schwieg

  • Heinz Odermann
  • Lesedauer: ca. 2.5 Min.
In langen Kolonnen zogen im Juni 1915 etwa 25000 Armenier auf der Hochebene von Erzinghan nach Kemach, unter sich den Euphrat, der sich zwischen hohen Felswänden und steilen Abhängen durchzwängt. Hier wurden sie überfallen und ausgeplündert und in ein Blutbad geworfen, das die Vorstellungswelt der Zeit übertraf. F.R. Nord, von 1915 bis 1918 in der Türkei, vermittelt in seinem Bericht »Ssir-anusch« (DVA, Stuttgart 1920) am Beispiel eines Mädchens, das dieses Massaker überlebte, das Bild einer unfassbaren Tragödie: »Zuckende, verstümmelte Körper wurden unter wildem Schreien und Brüllen in den tief dahinrauschenden Fluss geworfen, Frauen schleuderten ihre Kinder im Bogen hinab und sprangen ihnen nach, um dem Grauen zu entgehen, das rings um sie zum Himmel schrie, Verzweiflungsschreie hallten von den Felsen wider, und dieses Blutbad nahm kein Ende.« Den Bericht bezeugt Heinrich Vierbücher (»Armenien 1915«, Hamburg 1930) mit weiteren Tatsachen zu diesem Verbrechen in der Kemachschlucht. Armin T. Wegner, (1886-1978), ein bedeutender Dichter seiner Zeit, Sanitätsoffizier von 1915-1917 in der türkischen 6. Armee in Mesopotamien, gibt einen authentischen Bericht über den Völkermord, den er in einem Offenen Brief an US-Präsident Woodrow Wilson beschreibt. Als einer der wenigen Europäer sieht er die Konzentrationslager und die Spuren der Massaker. In Konstantinopel werden deutsche Diplomaten und Offiziere Zeugen der Austreibung der armenischen Intellektuellen vom 21. bis 25. April 1915 und in den Tagen danach. 609 Geistesschaffende werden auf den Weg in das Nichts gestoßen. Nur 14 überleben. Die gleichen Exzesse, zum Teil auch an Griechen und Juden, am Wan-See, in Urfa, Kaisarije, Erzerum, Konia und anderen Orten. Pfarrer Johannes Lepsius (1858-1926), Vorsitzender der deutschen Orientmission, vom Schweizer Diakon Jakob Künzler (1871-1947), amerikanischen Missionaren und Konsularbeamten unterstützt, legt eine umfassende Dokumentation vor (»Der Untergang des Armenischen Volkes«, Potsdam 1919) und gibt 1480000 Tote für 1915/16 von einer Volkszahl von etwa 1850000 Armeniern in der Türkei an. Reichsregierung und Oberste Heeresleitung waren bis in Einzelheiten über den Genozid unterrichtet. Sie schwiegen. In lauen nichtöffentlichen Protesten versuchte das Auswärtige Amt, sein Gesicht zu wahren. Die Türkei war politisch und militärisch der wichtigste Partner der Deutschen im Ersten Weltkrieg. Strategische und ökonomische Interessen erschienen wichtiger. Die moralische Mitverantwortung der deutschen Führungsspitze ist unübersehbar. Anderen Deutschen und Türken gereicht es zur Ehre, sich der rasenden Gewalt entgegengestellt zu haben. Diplomaten, Militärs, einige türkische Provinzgouverneure und Bauern retteten viele Tausend Armenier. Heinrich Vierbücher war dabei, als Marschall Liman von Sanders, Chef der Deutschen Militärmission im Osmanischen Reich, in Smyrna unter Androhung von Waffengewalt die Verschleppung der Armenier verhinderte. Marschall Colmar von der Goltz, deutscher Befehlshaber der türkischen 6. Armee in Mesopotamien, stoppte den Deportationszug in Mosul. Die zeitgleich administrativ zusammenhängenden Deportationszüge und die sie begleitenden Verbrechen zeugen von Planmäßigkeit, zentraler Befehlsgewalt und dem Willen, die Wirren des Krieges zu nutzen, die nichtislamischen Glieder des osmanischen Staatskörpers zu vernichten. Lange vor dem Krieg artete die Politik des Sultans Abdul Hamid nach einem homogenen, islamischen türkischen Volk in die Massaker von 1876 und 1894 bis 1896 mit 350000 Toten aus. Seine Ideologie hat das »Komitee für Einheit und Fortschritt« nach der Revolution von 1909 weitergetragen. Seit 90 Jahren leugnen alle türkischen Regierungen den Genozid. Diese Geisteshaltung hat Folgen für Generationen. Eine Umkehr von innen, eine neue Geisteshaltung ist geboten, denn Leugnen ist Teil des Völkermords und stellt eine Verhöhnung aller verkündeten Werte der Europäischen Gemeinsch...

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